Bonusmaterial
Wie einige von euch wissen, schreibe ich immer wieder "Szenen", aus denen teilweise Bücher entstehen.
So war es bei meiner Distraction-Reihe. Nicht alle dieser Szenen schaffen es in die Endfassung -
aus unterschiedlichsten Gründen. Hier für euch exklusiv unveröffentlichtes und
unlektoriertes Bonusmaterial aus der "Distraction-Reihe".
Distraction - Sophia und Clay
Das Veilchen zeichnete sich immer noch in seinem Gesicht ab. Vorsichtig betastete Clay es. Er fühlte keinen Schmerz. Vielleicht weil er es einfach gewohnt war, ständig Schmerz zu empfinden. Die körperlichen kamen an die psychischen nicht heran. Seit dem Tod seines Bruders wechselte sich dieses fürchterliche Stechen in der Brust mit der endlosen Leere ab, die ihm allerdings lieber war.
Es klopfte an der Tür und keine Sekunde später trat Sophia ein.
„Ich hab noch nicht ‚Herein‘ gesagt“, maulte Clay.
Seine Mutter entgegnete nichts, was ihn verwunderte und weswegen er schließlich den Blick von dem Spiegel abwandte und sie ansah. Sie sah fertig aus heute. Das Haar war ungekämmt und sie hatte sich kaum geschminkt. Er war diesen Anblick gewöhnt, jedoch nur, wenn sie zu Hause war. Heute hatte sie eine Reise zu ihrer Ex-Schwägerin angekündigt und Clay befohlen, seine Lieblingssachen mitzunehmen. Diese Aufforderung war ihm sofort merkwürdig erschienen, vor allem die Tatsache, dass Jessie nicht mitkommen sollte. Vermutlich wieder einer dieser verzweifelten Versuche, eine neue Erziehungsmaßnahme zu finden, die endlich Wirkung zeigen sollte. Was Sophia dabei nicht begriff, war, dass das Problem ihre Alkoholkrankheit und ihr prügelnder Freund war, sowie die Tatsache, dass Colin nicht mehr hier. Nie wieder zurückkommen würde. Bei dem Gedanken verspürte Clay wieder diese unerträgliche Pein. Plötzlich kam ihm der absurde Gedanke, dass das Veilchen geradezu lächerlich war im Vergleich zu seinen inneren Schmerzen und er fragte sich, wie es wohl wäre, wenn man diese äußerlich sehen könnte. Weitaus schlimmer, als ein blaues Auge. Vermutlich wäre er entstellt.
„Clay? Bist du noch anwesend?“ Seine Mutter klang unendlich erschöpft. Vermutlich war das auf die letzten paar Tage zurückzuführen, an denen sie nur gestritten, geschrien und getobt hatte.
Mit einem Mal zeichnete sich ein trauriger Ausdruck auf Clays Gesicht ab, den er sogleich hinter seinem arroganten Grinsen versteckte. „Wieso müssen wir ausgerechnet jetzt zu Mary? Wir haben sie doch schon jahrelang nicht gesehen und ich dachte, sie ist irgendwo in Amerika.“
„Sie ist hier. Sie hat das von Colin gehört und…“
„Das von Colin ist schon fast ein halbes Jahr her, Mutter!“
„Clay, kannst du bitte einfach kommen? Müssen wir schon wieder diskutieren?“ Wieder warf sie ihm diesen Blick zu – diese Mischung aus Enttäuschung und Resignation, der Clay so wütend machte.
„Wozu brauchst du mich dabei?“
„Weil wir… wir sollten endlich gewisse Dinge klären“, sagte Sophia müde.
„Und dazu brauchen wir Mary?“
„Clay, bitte! Sei jetzt einfach still und komm!“
Fast hätte er erneut protestiert, doch dann kam er doch ihrer Bitte nach. Was sollte groß sein? Es waren Sommerferien und seit Colins Tod hatte er sich ohnehin von sämtlichen Freunden abgekapselt. Er würde also nur alleine im Zimmer herumsitzen und müsste sich mit Peter streiten. So hatte er wenigstens seine Ruhe von seinem verhassten Stiefvater. Also schnappte er sich seine Sporttasche und seinen Laptop und folgte seiner Mutter nach draußen. Sophia warf einen auffallend langen Blick zurück auf Clays Zimmer, ehe sie die Tür schloss. „Ist alles klar?“
„Ja, sicher“, antwortete sie rasch.
„Wirklich?“
„Wie kommst du darauf?“
„Weil du mein Zimmer gerade so angestarrt hast, als würdest du es nie wieder sehen.“ Er zögerte und lachte gekünstelt auf. „Du bist jetzt aber nicht schon so durchgeknallt, dass du irgendwo gegen eine Mauer fährst, oder?“
In diesem Moment holte sie aus und verpasste ihm eine Ohrfeige. Alles war so schnell gegangen, dass Clay nur überrascht zusehen konnte. „Mach nie wieder Witze über so etwas! Schon gar nicht, nachdem was dein Bruder getan hat!“
„Was ist dann los, verdammt?! Wieso sagst du mir nicht, was…“
„Bitte, Clay! Komm einfach! Vielleicht sollten wir jetzt nicht mehr miteinander reden. Wir reden doch die letzten Wochen und Monate schon kaum und streiten nur. Und ich will nicht mehr streiten.“ Sie ging die Stiege nach unten und trat auf den Kühlschrank zu. „Ich habe uns etwas zu essen gemacht“, erklärte sie, als sie in Alufolie verpackte Brote daraus hervorholte. „Für unterwegs.“
Gedankenversunken starrte er aus dem Fenster und beobachtete während der Fahrt die vorbeiflitzende Landschaft.
„Wohin fährst du bitte?“, fragte Clay, als sie schon eine Weile unterwegs waren und ihm die Gegend vollkommen unbekannt war. Sie befanden sich auf einer alten Landstraße und langsam setzten Zweifel ein. Ging es hier tatsächlich zu seiner Tante?
„Ich muss nur schnell tanken. Da vorn liegt eine kleine Tankstelle mit einem Shop. Du kannst was kaufen, wenn du willst.“
Nur wenige Meter später hielt sie den Wagen an. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen und die Tankstelle sah aus, als würde sie nicht oft benutzt werden. Alles wirkte altmodisch und heruntergekommen. Sophia stieg aus und er folgte ihrem Beispiel.
„Mutter? Was zur Hölle tust du da?!“ Irritiert beobachtete Clay, wie sie den Kofferraum öffnete und seine Sachen auf den Asphalt stellte.
Unendlich erschöpft begegnete sie seinem Blick und Clay meinte, eine gewisse Traurigkeit in ihrem Gesicht zu sehen.
„Wieso sagst du nichts? Wieso holst du meine Sachen jetzt raus? Ich bezweifle, dass Mary sich hinter einem Busch versteckt hat und campen werden wir ganz sicher auch nicht.“
„Ein paar Meter zurück ist eine Bushaltestelle, Clay!“ Während sie sprach, holte sie ihre Geldtasche hervor. „Hier sind 500 Euro. Damit solltest du fürs Erste durchkommen, zusammen mit dem Geld, das du noch auf deinem Konto hast. Bis du irgendwo unterkommst und dir einen Job suchst.“
„Was redest du da?“, fragte Clay und konnte nicht verhindern, dass Angst in seiner Stimme mitschwang.
„Ich hab alles versucht, Clay, aber es funktioniert einfach nicht. Ich bin am Ende meiner Kräfte und du… du bist wie ein Parasit, der sie mir raubt. Wir streiten nur und es ist das Beste, wenn wir uns nicht mehr sehen.“
Ungläubig schnappte Clay nach Luft. „Das ist doch nicht dein Ernst!“ Tränen waren in seine Augen getreten. „Das kann nicht dein Ernst sein! Du kannst mich doch nicht hier aussetzen wie einen Hund.“
Sie drehte sich weg und ging zurück zur Fahrerseite. Eilig lief Clay ihr hinterher und packte sie am Arm. „Bitte, Mama! Ich hab’s kapiert, okay?! Du kannst jetzt mit deinem Schauspiel aufhören! Du… ich meine, was willst du denn von mir? Ich werde versuchen, mich zusammen zu reißen, okay? ich werde Peter nicht mehr provozieren, aber…“
Sie riss sich von ihm los und wich ein paar Schritte nach hinten aus. „Doch, Clay! Das ist mein Ernst. Ich kann nicht mehr! Es tut mir leid.“ Sie öffnete die Fahrertür.
„Ich kann dir doch nicht so vollkommen egal sein?!“ Tränen liefen seine Wangen hinab. „Mama, ich bin dein Sohn! Auch wenn ich vielleicht nicht so bin, wie du mich haben willst. Auch wenn ich nicht so perfekt bin, wie Colin es immer war, aber… ich kann dir doch nicht so egal sein!“
Traurig sah sie ihn an. „Du verstehst es nicht, Clay. Du hast es nie verstanden. Es ist der einzige Weg! Du bist mir nicht egal!“
„Ach nein?!“ Seine Stimme hatte sich überschlagen. „Warum tust du das dann? Warum fahren wir nicht zu Mary? Bitte, Mama!“
„Weil es keinen Sinn hätte, Clay! Das sagst du jetzt, weil du Angst hast. Aber in drei Tagen ist es vergessen und du terrorisierst mich weiter. Ich bin nicht stark genug für so was. Ich hab alles versucht!“
„Ach? Hast du das?!“ Verächtlich sah er sie an. „Was denn, hm? Seit er gestorben ist, besäufst du dich doch nur ständig! All deine Psychos verstehst du. Aber mich?! Hast du ein einziges Mal versucht, mich zu verstehen? Nein, hast du nicht! Ich bin immer nur der missratene Sohn, der sich nicht benehmen kann. Du stellst deinen Schlägertypen ständig über mich. Es ist dir egal, dass er deine Kinder prügelt. Aber ich bin derjenige, der immer nur Aufmerksamkeit will und undankbar ist und noch dazu schwul!“ Sein Gesicht wurde kalt. „Das ist es, oder? Seit ich dir das gesagt hab, bist du noch kälter mir gegenüber geworden. Wie kann es auch sein, dass du in deiner perfekten kleinen Welt einen schwulen Sohn hast?!“
„Meine Welt ist schon lange nicht mehr perfekt“, entgegnete Sophia noch immer ausdruckslos.
„Aber das ist es doch, oder? Seit du das weißt, siehst du mich nur mehr mit Verachtung an! Seit du es weißt, hast du aufgehört, mich zu lieben. Falls du es überhaupt jemals getan hast!“
„Wenn du das so siehst!“ Sie stieg ins Auto ein, die Tür stand noch offen.
„Schön! Denn weißt du was, Mutter? Ich verachte dich ebenso. Du predigst, was ich alles falsch mache? Sieh dich mal selbst an! Du bist erbärmlich! Du bist ein Alki und willst es dir nicht mal selbst eingestehen. Ich steh wenigstens zu dem, was ich bin!“ Das waren die letzten Worte, die er an sie richtete, ehe sie die Tür zuschlug, losfuhr und ihn zurückließ.
Eine geballte Ladung unterschiedlichster Emotionen braute sich in ihm zusammen. Er zitterte vor Wut und war gleichermaßen kurz davor, in Tränen auszubrechen. Er fühlte sich enttäuscht, verletzt und im Stich gelassen. Es war nicht so, als würde er diese Gefühle nicht kennen. Doch so eine extreme Aktion hätte er seiner Mutter trotzdem niemals zugetraut.
Clay seufzte als Antwort nur und folgte ihr nach draußen ins Auto.
Distraction - Clay und Mario
Clay saß im Wohnzimmer und beobachtete die Flammen der Kerzen bei ihrem Tanz, während er den unvertrauten Geräuschen der Nacht lauschte. Der Straßenlärm war lauter als Zuhause. Zuhause, dachte er verächtlich. Seine Wohnung in Graz hatte sich nicht wie ein Zuhause angefühlt. Es war ewig her, seit er dieses Gefühl verspürt hatte. Zuletzt als Kind. In Atlanta. Jetzt war er wieder in Amerika und doch war alles noch so fremd. Sogar Mario fühlte sich fremd an.
Es gab Nächte, da ertrug Clay dessen Gegenwart nicht. Es war zu nahe. Zu viel. Zu schnell. In Österreich hatten sie sich stets versteckt, in Sorge, erwischt und getötet zu werden. Noch immer war die Gefahr nicht gebannt. Distraction könnte ihn finden. Clay wollte sich lieber nicht ausmalen, was die Verbrecherorganisation dann mit ihm anstellen würde.
Erinnerungen an finstere Zellen, Elektroschocks und Prügel prasselten auf ihn ein. Schlimm genug, dass ihn seine Traumata in den Schlaf verfolgten – kürzlich hatte er auch Probleme, ihnen im Wachzustand zu entkommen.
Die Wut kehrte zurück und vertrieb die Ängste ein Stück. Gut. Das war gut. Wut war sein Antrieb. Er stand vom Sofa auf und tigerte in der kleinen Wohnung auf und ab, die er sich mit Mario teilte. Es war seltsam, nicht mehr allein zu wohnen. Seltsam, dass immer jemand da war. Manchmal war es zu viel.
Clay öffnete die Balkontür und trat nach draußen. Frische Luft fuhr durch sein Haar, das so lange war wie schon ewig nicht mehr. Eigentlich trug er es so lange wie noch niemals zuvor. Ein Friseurtermin wäre wohl mal wieder angebracht. Lautlos trat er an die Brüstung und betrachtete all die Lichter der Stadt, die in der Ferne funkelten. Richtig dunkel war es hier nie. Ein Pluspunkt. Clay verabscheute die Finsternis wegen Distractions Foltermethoden.
„Clay? Was machst du denn da?“ Marios Stimme klang verschlafen. Wenig später stand er neben Clay und legte seine Hand auf dessen Schulter. Ständig berührte er ihn in irgendeiner Art und Weise. Noch so etwas Ungewohntes.
„Ich konnte nicht schlafen.“
„Wieder die Albträume?“
Als einzige Antwort zuckte Clay mit den Schultern und wandte sich ab. Mario wusste doch genau Bescheid, es war also eine sinnlose Frage. Früher hätte Clay ihn darauf aufmerksam gemacht, doch er arbeitete an sich. Wollte ein besserer Mensch werden. Nicht so kratzbürstig sein. Mario hatte schon sehr viel Geduld bewiesen und Clay wollte etwas zurückgeben. Immer wieder fragte er sich, was Mario überhaupt in ihm sah.
„Du grübelst.“ Ein Arm legte sich um Clays Schultern und zog ihn näher zu Mario. Instinktiv verspannte er. Mario ignorierte sein Verhalten und wisperte stattdessen in Clays Ohr: „Die Aussicht ist atemberaubend.“
„Hm.“
Ein leises Seufzen an seiner Seite. Stille breitete sich über sie aus. Na ja, keine richtige Stille. Gesprächsfetzen eines Pärchens drangen von der Straße nach oben, ein Moped drehte seine Runden, irgendwo quietschen Reifen und von dem Lokal auf der gegenüberliegenden Straßenseite drang leise Musik nach draußen. Leben. Warum nur fühlte Clay sich nicht wie ein Teil davon?
„Ich weiß, du willst es nicht hören, aber …“
„Eine Therapie ist zu riskant.“ Clay wand sich aus Marios Griff. Wieder seufzte dieser. Das tat er häufig. Vermutlich löste Clays Gegenwart dies aus. Niemand hielt es lange mit ihm aus, weder seine Eltern, noch sein bester Freund oder sein Bruder. Fast alle waren tot. Würde Mario auch seinetwegen sterben? Zu seinen Anfangszeiten bei Distraction hatte Clay mitbekommen, wie sie die Frau eines Agenten vor dessen Augen getötet hatten, weil er aufbegehrt hatte. Nach ihrem Tod war er an der Reihe gewesen.
„Du musst ruhiger werden, Clay!“
„Ich bin ruhig!“
Marios Hand legte sich auf Clays, die auf dem Geländer trommelte. Erst jetzt wurde Clay sich seiner Bewegung bewusst. Wieder kehrte die Wut zurück. In Filmen sah ein Neuanfang so einfach aus. Der Held reitet strahlend in den Sonnenuntergang. Vielleicht war das Problem, dass er kein Held war. Viel eher war er der Bösewicht.
„Warum verschließt du dich so vor mir?“ Mario wich einen Schritt nach hinten aus. „Ich dachte, es sind nur die ersten Wochen, doch es wird immer schlechter anstatt besser.“
„Bereust du es?“
„Was?“ Ein vorbeifahrendes Auto erhellte Marios linke Gesichtshälfte. Sein Blick war traurig und gleichzeitig irritiert.
„Du hast dein ganzes Leben aufgegeben. Wegen mir.“ Clay legte seine Finger um das kühle Geländer. „Bereust du es?“
„Nein.“
Clay wusste nicht, ob er ihm glauben sollte oder nicht.
„Ja, ich vermisse Jessie und meine Mutter, aber ich bin mit dir hier. Das ist, was zählt.“
„Gott, du bist immer so kitschig!“ Clay wandte sich ab.
„Ich weiß nicht, was du hören willst.“ Resignation schwang in den Worten mit.
„Ich weiß es auch nicht.“
„Warum gehen wir nicht einfach ins Bett?“ Mario klang bittend und Clay fühlte sich mies, weil Mario sich wegen ihm mies fühlte.
„Ich kann es einfach nicht richtig machen.“
„Was denn?“
„Das hier. Es ist … so viel.“ Clay starrte auf die vielen Lichter in der Ferne.
„Was meinst du denn?“
„Du, ich. Diese Wohnung.“
„Willst du lieber allein wohnen?“ Mario klang verletzt.
„Wir kennen uns eigentlich kaum.“ Clay konnte seinen Freund nicht länger ansehen.
„Du kennst mich. Und ich kenne dich. Ich weiß, dass du Schiss hast und traumatisiert bist, aber …“
„Aber was? Mit deiner Liebe heilst du mich?!“ Clay machte sich keine Mühe, den Sarkasmus zu verbergen.
„Nein, offenbar nicht. Deswegen verstehe ich auch nicht, warum du einer Therapie keine Chance geben kannst. Der Geheimdienst hat eigene Leute dafür.“
„Was soll reden denn bringen?“
„Keine Ahnung – finde es raus. Du bist doch sonst nicht so ein Feigling.“
Nun war Clay es, der hörbar einatmete. „Hör auf, mit deiner umgekehrten Psychologie.“
„Wie meinen?“
„Du weißt genau, wie ich das meine.“
Mario kam wieder näher und nahm Clays Hände in seine. „Ich will einfach nur, dass du mal zur Ruhe kommst und schlafen kannst. Das ist alles.“ Diese braunen, mittlerweile so vertrauten Augen bohrten sich in Clays und Marios Blick löste abermals schlechtes Gewissen aus. Clay seufzte. „Ich überlege es mir.“
„Das reicht mir fürs erste. Aber jetzt komm schon! Es ist spät und wir müssen morgen wieder früh auf.“
Clay unterdrückte ein Gähnen und folgte Mario in die Wohnung.
Treasons - Jake
„Komm schon, Jacob! Steh auf!“
Müde blinzelte Jake.
„Mach schon!“ Vor ihm stand Felix und wirkte sehr ungeduldig. „Wir müssen los!“
Er setzte sich auf und fing gerade noch rechtzeitig die Kleidung auf, die Felix ihm zuwarf. Schwarze Klamotten. Eine Sturmhaube.
„Beeil dich gefälligst!“
Zehn Minuten später stand Jake im strömenden Regen.
„Was tun wir hier?“
„Ein Spezialauftrag!“, antwortete Felix ruhig.
Jake sah sich um. Sie waren am Trainingsplatz vor dem Heimgelände. Es war mitten in der Nacht. Niemand sonst war hier.
„Ich verstehe nicht …“
„Sei still!“
Das Unbehagen in ihm wuchs.
„Da!“ Felix deutete in die Dunkelheit.
Jake verengte die Augen. Er konnte nichts ausmachen außer strömendem Regen. Ihm war kalt. Er wollte zurück ins Bett. Doch all das sprach er nicht aus. Es hätte ihm nur Rüge eingebracht.
„Nimm ihn ins Visier!“
„Wen?!“
„Na ihn!“ Ein Schlag traf ihn am Hinterkopf und ließ ihn fast stolpern. Das Gewehr wog Tonnen.
Jetzt sah Jake ihn auch. Sommer – ein neuer Heimaufseher - stand in der Ferne rauchend im Regen.
„Ziel endlich, du Idiot!“, fauchte Felix.
„Was? Warum …?!“
„Du sollst keine Fragen stellen! Handle!“
„Aber …“
„Verdammt, Jacob!“ Ein knurrender Unterton.
Jake schulterte das Gewehr. Der Heimaufseher kam immer näher. Jake beobachtete ihn durch das Zielrohr.
„Siehst du ihn?“
„Ja.“
„Dann drück ab!“
„Aber …“
„DRÜCK AB, JACOB!“
Zuerst zögerte Jake, dann tat er wie befohlen. Der Schuss löste sich. Sein Schall war gedämpft, doch trotzdem war er ohrenbetäubend laut. Sommer ging in die Knie.
„Das war ein guter Schuss!“
„Wieso …“
„Er war ein Spitzel! Und jetzt hilf mir, seine Leiche zu entsorgen.“
Jake folgte Felix. Er zitterte leicht. Mittlerweile spürte er seine Finger vor Kälte nicht mehr. Als er die Leiche vor sich sah wurde ihm übel.
„Nimm seine Beine!“, wies Felix ihn an.
Jake zögerte.
„Nun mach schon!“
Er beugte sich hinunter. Sommer war schwerer als erwartet. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Jake erst elf Jahre alt war.
Ein Geräusch riss ihn aus seinem Traum. Jake öffnete die Augen und war sofort hellwach und angespannt. Mit Erleichterung stellte er fest, dass es nur Shadow war, die ihn geweckt hatte. Sie schmiege ihren Kopf an seinen Arm.
„Na du!“, wisperte Jake durch ihr Schnurren und warf einen Blick auf die leere Bettseite neben sich. Max arbeitete. Jake seufzte leise, setzte sich auf und nahm seine Katze auf den Schoß. Dabei dachte er wieder an früher. An all die Morde. An Krieger. An Köhler.
„Dein Herrchen ist völlig verkorkst“, murmelte er leise und vergrub seine Finger in Shadows weichem, schwarzem Fell. Hände, die so viele grausame Taten vollbracht hatten. Die getötet hatten. Hätte er anders handeln können? Es gab doch immer eine Wahl – oder nicht? Und wenn er sich anders entschieden hätte – was dann?
Dann wäre er jetzt tot.
Der Druck in seiner Brust war zurück. Die letzten Wochen fühlte er ihn häufiger. Jake wusste, was dagegen helfen würde. Doch bisher hatte er dem Drang nicht nachgegeben. Es würde ihm Probleme einbringen. Mit Max.
Schwerfällig stand er auf, woraufhin Shadow ihm einen empörten Blick zuwarf. „Tut mir leid“, murmelte er in ihre Richtung, ehe er sich auf ins Badezimmer machte. Im Spiegel blickte ihm ein junger, müder Mann entgegen. Viel zu müde für sein Alter. Diese Augen hatten viel zu viel gesehen.
Jake betrachtete die Narben auf seinem Oberkörper. Die Zigarettenstummel, die Messerschnitte … Er schloss die Augen, versuchte sich gegen den Schmerz abzuschirmen, ballte seine Hände zu Fäusten.
Er sah sich selbst in dem dunklen Raum auf den Nagelbrettern knien. Spürte das Blut an seinem Körper hinabrinnen. Seine Gliedmaßen, die längst taub waren. Schmerz. Es war nur Schmerz. Er würde vergehen. Warum hielt er noch immer an? Es war Jahre her …
Jake öffnete die Augen und sah diesen verängstigten Jungen vor sich stehen.
„Verschwinde endlich!“
Das war nicht mehr er. Er war erwachsen. Er war jetzt ASS-Agent, stand auf der richtigen Seite. Und doch war in diesem Moment wieder der kleine Junge von damals.
Seine eisblauen Augen blickten ihn viel zu furchtsam an.
„Scheiße, verdammte!“, fluchte er und drehte sich um. Wollte sich selbst nicht mehr sehen.
Wie konnte Max ihn überhaupt attraktiv finden?! Mit all den Narben … innerlich und äußerlich.
Das Pochen in seiner Brust war zu einer drückenden Enge angeschwollen, die mittlerweile in physischem Schmerz mündete. Jake schluckte. Er wusste, was helfen würde. Er brauchte einen Katalysator. Sein Blick fiel auf die Rasierklinge. Er zögerte. Sah erneut in den Spiegel. Der kleine Junge stand hinter ihm. Oder bildete er sich das nur ein? Jake blinzelte. Der Junge war weg. Jake war allein. Natürlich war er allein.
Gerade als er aufatmen wollte, spürte er Köhler, der ihn packte. Ihn grob zu Boden drückte. Neben ihm standen diese Männer in Uniformen. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, sich vollständig zu entblößen. Es reichte, wenn sie die Hose öffneten. Sie ein Stück nach unten schoben. Die Bilder drängten sich ihm auf. Immer schneller. Und schneller. Jake konnte nicht mehr atmen. Sein Herz raste. Schweiß bedeckte seine Haut.
Er überlegte nicht länger und griff nach der Klinge, drückte sie in seinen Oberarm. Auf die Innenseite. So würde sie nicht gleich jeder sehen. Schmerz durchfuhr ihn. Blut tropfte auf den Badezimmerboden.
Jake atmete tief aus und merkte erst jetzt, wie sehr er zitterte. Er ließ die Klinge fallen. Der Schnitt war tief. Er hatte Köhler vertrieben.
Fasziniert beobachtete er im Spiegel, wie das Blut aus seiner Verletzung lief. Wie oft hatte er geblutet!
Welch Ironie, dass ihm nun ausgerechnet Blut half. Schmerz gegen Schmerz. Der äußere bekämpft den anderen inneren.
Jake dachte an Max. An Jan. Stellte sich deren missbilligende Blicke vor. Und plötzlich schämte er sich. Schämte sich, weil er so schwach war. Er war nicht stark. Die zweite Ironie: Felix hatte ihn stark machen wollen und ihn stattdessen geschwächt.
Jake hob das Messer hoch. Verpasste sich einen zweiten Schnitt, knapp neben dem ersten. Dieser war nicht so tief. Trotzdem spürte er das Brennen. Es hinterließ ein befriedigendes Gefühl. Das konnte er aushalten. Es war nicht so schlimm. Vermutlich würde dieser Schnitt nicht mal eine Narbe hinterlassen. Und der erste? Der vielleicht. Aber was war eine weitere Narbe?
Wieder dachte er an Max und mit einem Mal war ihm übel. Sein Freund durfte das nicht sehen. Sonst … was sonst?
Jake wusch die Klinge ab und legte sie zurück. Danach griff er nach einem Lappen und wischte die Sauerei am Boden auf. Zum Schluss presste er Klopapier auf die Wunde und stoppte die Blutung. Anschließend trug er eine Wundsalbe auf und zog ein T-Shirt über. Erschöpft kehrte er zurück ins Bett und schloss die Augen.
Trust Gone - Fabio und Alec
„In fünf Minuten startet ein Flieger in die Karibik!“ Alec starrte auf die Anzeigetafel.
„Wenn du den kriegen willst, musst du dich aber beeilen!“, erwiderte Fabio und grinste.
„Irgendwann, Alter. Warst du schon mal in der Karibik?“
„Nope – England ist schon weit genug weg für mich. Viel weiter bin ich noch nicht gekommen.“
„Hm … der kleine Italiener auf Weltreise.“
„Eben nicht.“ Fabio schubste Alec zur Seite.
Der grinste.
„Ich hab mal eine Weile in Chicago gearbeitet. Furchtbarer Dialekt!“ Alec verzog sein Gesicht.
„Ich bin mir sicher, das Gleiche haben die über dich gesagt.“
„Nein, die fanden meinen Dialekt alle süß. Die stehen auf Europäer!“
„Engländer finden die Amis sicher nicht so cool wie Italiener.“
„Ja, ja …“
„Was?“ Wieder grinste Fabio. „Jeder mag Italiener.“
„Spanier nicht.“
„Wieso sollten Spanier keine Italiener mögen?!“ Fabio schüttelte den Kopf.
„Weil ihr ihnen die Sprache geklaut habt.“
„Das stimmt gar nicht. Die haben uns die Sprache geklaut.“
„Es reden mehr Leute Spanisch.“
Ungläubig sah Fabio seinen Freund an. „Okay, dieses Gespräch ist sinnlos.“
Alec lachte. Dann sah er wieder auf die Anzeigetafel. „Wo würdest du gern hin?“
Eine Weile überlegte Fabio. „Ich hab keine Ahnung. Es gibt sicher viele tolle Orte. Aber ich glaube, es ist nicht wichtig, wo du bist, sondern mit wem du dort bist.“ Nachdenklich sah er Alec an. Dachte an die letzte Nacht. Und den heutigen Morgen, an dem Alec Kayla geküsst hatte.
„Wie tiefgründig!“ Alec boxte ihn kurz in die Seite. „Zieh nicht so ein Gesicht.“
Fabio lächelte. „Bald muss ich zurück nach Sizilien.“
„Warum?“
„Weil meine Mutter schon einen Baum aufstellt. Ich war seit fast einem Jahr nicht mehr daheim.“
„Dann fahr hin.“
„Ja … ich vermisse das Meer. Aber …“
„Aber was?“ Alec legte den Kopf schief.
„Dann kommen wieder ihre ganzen Fragen und …“ Er holte tief Luft. „Meinst du, ich sollte es ihr sagen?“
„Nein.“ Die Antwort kam rasch.
Enttäuscht senkte Fabio den Blick. Aber warum hatte er Alec auch gefragt? Der verschwieg seine sexuelle Neigung auch. Er selbst war Alecs schmutziges Geheimnis. Würde nie mehr sein.
Fabio stand auf.
„Wohin gehst du?“
„Ich hau ab.“
„Aber wir wollten uns den Ami-Flieger anschauen.“
„Der landet erst in zwanzig Minuten.“
„Na und?“ Alec erhob sich ebenso. „Hast du etwa was Besseres zu tun?“
„Ja. Schlafen.“
„Soll ich mitkommen?“ Alec grinste dreckig.
Innerlich seufzte Fabio, doch äußerlich lächelte er und meinte: „Nein, lass mal. Kayla wird sich wundern und überhaupt …“ Er versuchte schelmisch zu klingen: „Du wirst langsam langweilig im Bett. Ich brauch mal wieder Abwechslung.“
„Scht, nicht so laut!“ Alec sah sich um.
Fabio rollte nur die Augen. Dann drehte er sich um.
„Hey Catalano!“, rief Alec ihm hinterher.
„Was?“
„Ich bin nicht langweilig im Bett.“
Fabio hob herausfordernd eine Augenbraue hoch: „Denkst du?“
„Das hab ich letzte Nacht gesehen.“
„Bild dir nicht zu viel ein.“
„Tue ich nicht. Kann nichts machen, wenn ich einfach der Beste bin.“
„Träum weiter!“ Fabio drehte sich um und ging.