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Kurzgeschichte

Mit dieser Kurzgeschichte gewann ich  2016 den 1. Platz des K3-Literaturwettbewerbs in Gratwein-Straßengel. Das Thema lautete „Berge“.

Am Berg ist der Himmel am nächsten

Mama hat die Berge stets geliebt. Wandern, Schifahren oder einfach nur die frische Luft genießen. Ich erinnere mich, dass mein Bruder und ich das Wandern hassten. Als wir älter wurden, fuhren Mama und Papa allein auf die Almhütte. Wir hatten anderes zu tun. Besseres.
Jetzt sitze ich hier vor der alten Almhütte auf der Bank, lasse mir die untergehende Sonne ins Gesicht scheinen und denke an Mama. Stelle mir vor, ihr Geist ist bei mir. In meiner Vorstellung schwirrt er in den Bergen herum – weil sie diese immer so geliebt hat. Nach Mamas Tod kam ich öfters hierhin. Hier fühlte ich mich mit ihr verbunden. Hier war es still. Hier hatte ich Zeit zu trauern. In unserer schnellen, hektischen Welt hat man die kaum. Ein wenig Trauer ist okay, aber bitte nicht zu viel. Und die Termine müssen auch eingehalten werden – zumindest nach ein paar Wochen wieder. Immerhin geht das Leben weiter. Also habe ich funktioniert. Nur hier, auf dieser alten Almhütte, die voller Erinnerungen steckt, habe ich getrauert. Ich habe geweint, geschrien und war ruhig.
So ruhig wie heute. Sanft streichelt meine Hand die Wange meiner kleinen Tochter. Vier ist sie. Vor ein paar Wochen erst geworden. Ihre Oma hat sie nie kennen gelernt. Elisa regt sich leicht. Ich denke schon, sie wacht auf, doch es ist bloß ihr unruhiger Schlaf. Schützend lege ich meine Hand auf ihren Kopf. Versuche zu fühlen, ob sie wieder Fieber hat. Ich ziehe die blaue Fleece-Decke bis zu ihrer Nasenspitze, sodass ihr kleiner Körper ganz bedeckt ist.

„Ihr zwei seid noch immer hier draußen?“
Leo steht hinter mir und ich zucke kurz zusammen, weil ich meinen Mann gar nicht aus der Hütte kommen habe hören. Als Antwort nicke ich nur. Lege meinen Zeigefinger auf meine Lippen. Elisa soll nicht aufwachen.
Ihren Namen gaben wir ihr in Andenken an ihre Oma – Elisabeth. Ich glaube, das hätte meiner Mama gefallen. Vielleicht bekommt sie es ja mit. Wie zur Bestätigung fährt eine leichte Brise durch mein Haar.
„Wollt ihr nicht reinkommen?“, erkundigt sich Leo leise. „Es wird langsam kalt.“
„Ein bisschen noch“, antworte ich.
„Es wird Zeit für ihre Medizin.“
„Ich weiß!“ Ich habe ihn schärfer angesprochen als beabsichtigt und sogleich tut es mir leid. Das sage ich ihm. Er nickt nur. „Schon gut. Ich weiß ja.“

Eine Weile sehen wir einander an. Ein ganzer Berg an unausgesprochenen Emotionen und Worten liegt zwischen uns. Früher konnte ich mit diesem Mann über alles reden – heute ist diese drückende Spannung zwischen uns. Ich lechze förmlich danach, alles rauszulassen, ihm alles zu sagen. Vielleicht geht es ihm ähnlich – doch ich weiß es nicht, denn als ich den Mund aufmachen und etwas sagen will, wendet er sich ab mit den Worten: „Ich warte drin vor dem Kamin.“ Verzweifelt sehe ich ihm hinterher, doch ich höre nur den leisen Matsch unter seinen Sohlen, bis das Geräusch von der knarzenden Holztür abgelöst wird und Leo im Inneren der Hütte verschwindet.
Leise seufze ich. Betrachte den Baum vor mir. Es ist eine alte Birke, glaube ich. Ich kenne mich nicht so gut aus mit der Natur. Meine Mama wusste das alles. Sie wusste genau, wie jede Pflanze heißt und sie konnte Vögel meistens sogar an deren Gesang erkennen. Heute pfeift kein Vogel. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Eigentlich ist es schon fast dunkel. Es könnte unheimlich sein, ist es aber nicht. Denn ich weiß, ich bin nicht allein. Mein Mann ist hier und meine Tochter. Und meine Mama. Wo sonst könnte man dem Himmel näher sein, als auf einem Berg? Eine Träne rinnt meine Wange hinab. Gefolgt von einer weiteren. Ich mache mir nicht die Mühe, sie fortzuwischen.

„Was ist denn los, Mama?“
Ich habe gar nicht gehört, dass Elisa aufgewacht ist. Sie sieht mich mit großen, dunklen Augen an. Es sind meine Augen. Die Augen meiner Mama. Ich muss noch mehr weinen. „Mama, du musst nicht traurig sein! Ich finde es schön hier! Und Oma auch!“
Nur mit Mühe unterdrücke ich ein Schluchzen. Ziehe meine kleine Tochter enger in meine Arme. Möchte sie nicht loslassen. Am liebsten nie mehr loslassen.
„Ist doch gut, Mama!“
Ich fühle mich schäbig, weil dieser kleine Mensch mich trösten muss. Ich sollte doch für sie da sein. Sie beschützen. Sie aufwachsen sehen.
„Nina? Bitte kommt doch herein! Du weißt doch, dass Elisa nicht zu lange draußen bleiben darf!“

Jetzt fühle ich mich noch schlechter, weil Leo mir meine Gedanken soeben bestätigt hat: Ich bin eine schlechte Mutter! Ich kann mein Kind nicht beschützen. Da spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Ein ganz sanfter Druck. Mein Mann seufzt. „Vielleicht nehme ich Elisa mal mit? Und du bleibst noch ein wenig allein hier?“
„Nein!“ Es kommt fast panisch. Ich schlinge meine Arme noch fester um Elisa.
Leo seufzt schon wieder. Langsam nervt es mich. Am liebsten würde ich ihn schlagen und ihn anschreien, dass er mich doch zufrieden lassen soll. Doch stattdessen bleibe ich ruhig. „Mama ist doch nicht allein. Da drüben sitzt Oma.“ Elisas fiebriger Blick richtet sich irgendwo ins Nirgendwo, zwischen ein paar Bäume.
„Na toll! Ich sagte doch, wir hätten zu Hause bleiben soll“, mault Leo. „Es war ja klar, dass es ihr hier schlechter geht – in dieser Kälte.“

„Ich habe dich gefragt und du warst einverstanden!“, kontere ich genervt.
„Ja, weil wir sonst wieder gestritten hätten!“
„Und was tun wir jetzt?“
Er seufzt bereits zum dritten Mal und dieses Geräusch lässt mich schließlich explodieren. „Das ist sicher nicht nur meine Schuld, ich…“
„Hört doch bitte auf zu streiten!“ Elisas Stimmchen ist ganz zart. Ich fühle mich noch schlechter. Meine vierjährige Tochter muss mich maßregeln. Sämtlicher Ärger ist verraucht. Ich fühle mich nur noch erledigt.
„Komm schon!“, versucht es auch Leo ruhiger.
„Na schön!“, gebe ich nach und will mich erheben, doch Elisa macht sich schwer auf meinen Armen und schüttelt den Kopf. „Nein! Ich will noch hier bleiben! Es ist so schön hier!“
„Aber es ist kalt“, erwidert Leo.
„Nein, mir ist nicht kalt. Mir ist warm.“ Elisa lächelt. „Und da drüben steht Oma und winkt. Ich freue mich schon darauf, sie kennen zu lernen.“
Es ist wie ein Schlag in den Magen. Ich schluchze leise auf. Auch Leo stehen die Tränen in den Augen. Es ist still. So still, wie es sich für eine Almhütte im Wald gehört. Mein Mann will sich umdrehen, doch ich halte seine Hand. Sehe zu ihm auf und erkenne, dass die heiße Flüssigkeit gewonnen hat und sich ihren Weg in einem kleinen Bach über Leos Gesicht erkämpft hat. „Bleib!“, bitte ich. Er nickt. Setzt sich neben uns.

Es ist absurd, doch für einen kurzen Moment fühle ich Glück. So sollte es immer sein. „Ihr dürft nicht so viel streiten“, sagt Elisa nach einer halben Ewigkeit. „Wer soll euch denn wieder gut machen, wenn ich nicht mehr da bin?“ Diese Worte sind wie tausend Messerstiche ins Herz. Als ich meine Mama verloren hab, dachte ich, es könnte nichts schlimmer sein. Ich habe mich geirrt.
„Wir werden nicht streiten, mein Schatz!“ Es dauert eine ganze Weile, bis ich fähig bin, diesen Satz zu formulieren.
„Versprecht es mir!“
„Ich verspreche es dir!“
„Du auch, Papa?“
Zögern. Schließlich antwortet auch Leo: „Großes Papa-Ehrenwort.“

Elisa lächelt. „Gut.“ Sie sieht zufrieden aus. Ruhig. Und das ist beängstigend. Ich höre die Stimme des Arztes in meinem Ohr. Kurz vor dem Tod werden die Kinder häufig ruhig. Ich weiß, das ist schwierig, aber versuchen Sie, so gut es geht, Ihrer Tochter in diesem Augenblick Sicherheit zu vermitteln. Sie hat es dann bald geschafft. Sie muss nicht mehr leiden.
Bis jetzt habe ich versucht, den Gedanken an das Unausweichliche so gut wie möglich zu verdrängen. Die letzten Tage ging es Elisa besser. Vielleicht war ein Teil von mir davon überzeugt, dass die Ärzte mit ihrer Diagnose alle falsch lagen. Vielleicht dachte ich, die alte Almhütte auf diesem Berg könnte sie retten. Vielleicht dachte ich, sie kommt über den Berg.
Es ist schwer, loszulassen. Am schwersten ist es jedoch die Hoffnung aufzugeben. Zu realisieren – und zwar nicht nur im Kopf. Meinem Verstand war klar, dass die Ärzte mir meine Tochter mit nach Hause gegeben hatten, damit Elisa hier in Ruhe sterben konnte. Keine schmerzenden Behandlungen mehr, keine Krankenhäuser. Nur mehr schmerzlindernde Medikamente. Sie sollte noch eine kurze Zeit in Frieden  haben – soweit dies in so einer Situation eben möglich ist.
„Nina?“ Leo berührt mich sachte am Arm. „Sie ist wieder eingeschlafen.“

Ich sehe hinunter. Lege meine Hand auf ihre Brust. Spüre den schwachen Herzschlag. Tatsächlich. Sie schläft bloß. Heute also noch nicht. Heute lernt sie ihre Oma noch nicht kennen. Vielleicht morgen. Vielleicht in drei Tagen. Aber nicht heute. Vor Erleichterung schluchze ich auf – doch ist es wirklich Erleichterung?
„Komm jetzt, Nina! Es ist kalt!“
„Kannst du sie reintragen?“, bitte ich Leo. „Ich brauche noch einen Moment.“
Er zögert, dann nickt er: „Natürlich.“ Sanft hebt er unsere kleine, viel zu dünne und kahlköpfige Tochter hoch. Bevor er die Hütte betritt, lächelt er mich an. Zumindest versucht er es. In seinen Augen glitzern noch immer die Tränen.
Ich sehe ihm hinterher. Als die Tür ins Schloss gefallen ist, atme ich tief aus. Meine eingeschlafenen Beine ziehe ich auf die Bank und winkle sie an meinen Körper. Schlinge meine Arme um sie und halte mich selbst fest, während ich weine und weine und weine.

Irgendwo in der mittlerweile stockdunklen Nacht knackst es. Ich frage mich, ob das meine Mama ist, die mich trösten will. „Du musst gut auf sie aufpassen, hörst du?“ Ich bringe die Worte kaum über meine Lippen. Wie gerne hätte ich meine Mama nun hier, die mich in den Arm nimmt. Dann jedoch versuche ich mich mit dem Gedanken zu trösten, dass Elisa nicht allein sein wird. Sie wird hier in den Bergen sein – bei ihrer Oma.
Leo kommt nach draußen. „Nina!“ Er hat meinen Namen leise ausgesprochen.
Ich wische die Tränen von meinem Gesicht. Versuche, mich zusammenzureißen. Zumindest so lange Elisa noch hier ist. So lange werden wir hier bleiben – in den Bergen. Und dann werde ich sie den Bergen übergeben. Und meiner Mama. Mit diesem Gedanken folge ich meinem Mann in die Hütte.